Magersucht: Wenn selbst Süßes und Salziges zur Qual wird

Es ist ein drastischer Titel, aber ich muss Alarm schlagen! Mir brennt nämlich seit geraumer Zeit ein Thema auf der Seele. Ich spreche von Essstörungen, einer weitläufig unterschätzten Gefahr für unsere Gesellschaft, vor allem aber für die Erkrankten.

Als ich am 20. Mai meinen 24. Geburtstag gefeiert habe, ist mir etwas klar geworden: Das Leben kann so schön sein. Ich habe eine tolle Familie und großartige Freunde. Und ich erfreue mich bisher bester Gesundheit. Dafür bin ich sehr dankbar, denn es ergeht nicht jedem so. Mit Blick auf mein bisher kurzes Leben bin ich sehr traurig, dass es für einige meiner gleichaltrigen Mitmenschen nicht so gut gelaufen ist.

Sie suchen Hilfe? Melden Sie sich unter (02 21) 89 20 31 (Mo.-Do.: 10.00 – 22.00 Uhr, Fr.-So.: 10.00 – 18.00 Uhr) oder besuchen Sie www.bzga-essstoerungen.de, um Hilfsangebote in Ihrer Nähe zu finden.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

In den letzten Jahren habe ich sieben Frauen kennengelernt, denen ihr Leben bereits in jungen Jahren über den Kopf gewachsen ist. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Eines eint sie aber, sie alle haben in ihren Krisen den selben vermeintlichen Ausweg gewählt: eine Magersucht.

Da ich in einem Fall selber miterleben durfte, was so eine Krankheit mit einem Menschen, aber auch dessen Umfeld anstellt, habe ich beschlossen, mit diesem Beitrag alle wachzurütteln. Ich glaube, dass dieses Thema in einer Gesellschaft mit Mager-, Gesundheits und Optimierungswahn eher verschwiegen oder verharmlost als zur Diskussion gestellt wird.

Das Internet spielt hierbei als eigentlich pluralistisches Medium eine unrühmliche Rolle, weil es von Kranken missbraucht wird. Auf dieses Phänomen stieß ich durch ein YouTube-Video, welches von klicksafe.de, einer Initiative der EU für mehr Sicherheit im Netz, bereitgestellt wurde. „Truth be told“ oder wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann sagen würde: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

klicksafe.de: Elisabeth erzählt von ihren Erfahrungen mit Pro Ana Blogs

Die gefährliche Verherrlichung von Essstörungen im Internet

Wer einen Vorgeschmack auf die kranke Gedankenwelt von Essgestörten bekommen möchte, der sollte einmal im Internet nach „Pro Ana“ oder „Pro Mia“ suchen. Sofort erscheinen Blogs, welche für Anorexia nervosa (Magersucht) respektive Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) Propaganda betreiben.

Die jeweilige Verniedlichung „Ana“ bzw. „Mia“ ist bewusst gewählt. Die Krankheit wird auf diesen Blogs nämlich instrumentalisiert und in sogenannten Briefen als Freundin dargestellt. Hier ein Auszug:

„Erlaube mir, mich vorzustellen. Mein Name, oder wie ich von sogenannten Ärzten genannt werde, ist Anorexie. Mein vollständiger Name ist Anorexia nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute Freunde. In nächster Zeit werde ich viel Zeit in dich investieren und ich erwarte das Gleiche von dir.“

Das Perfide: Suchtkranke versuchen andere Suchtkranke ins Boot zu holen. Dabei wird ganz bewusst ein Keil zwischen den Suchtkranken und seinen Bezugspersonen getrieben wie dieser Auszug belegt:

„(…) Aber ich habe einen schwachen Punkt. Den dürfen wir niemandem verraten. Wenn du dich entschliesst, gegen mich anzukämpfen, zu jemandem zu gehen und ihm zu sagen, was ich mit dir mache, wird die Hölle los sein. Niemand darf es herausfinden! Niemand kann diesen Panzer, mit dem ich dich beschützte, knacken. Ich habe dich geschaffen, dieses dünne, perfekte, seine Ziele erreichende Kind. Du gehörst mir. Mir ganz allein! Ohne mich bist du nichts mehr. Also kämpfe nicht gegen mich an. Wenn die anderen Kommentare abgeben, ignoriere sie. Mach dir nichts draus und vergiss, was sie gesagt haben. Vergiss jeden, der versucht mich dir wegzunehmen. Ich bin dein größter Schatz und ich habe die Absicht, dass das auch so bleibt. (…)“

Außerdem finden sich auf diesen Websites teilweise „Thinspirations“ (ein Kunstwort aus „thin“ (engl.) für dünn und „inspirations“ (engl.) für Inspirationen). In der Regel bestehen diese „Inspirationen“ aus (unästhetisch) dünnen Frauen. Manchmal werden diesen dünnen Frauen auch noch bewusst korpulente Frauen – als abschreckende Negativbeispiele – gegenübergestellt.

Beim Durchgucken dieser Websites für meine Recherche fiel mir auf, welche krassen Ideologien die Autorinnen (männliche Autoren habe ich bei meiner Recherche, welche keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, nicht entdecken können) für die Leserschaft bereithalten. Neben allerlei krankhafter Abnehmtipps, die ich hier ganz bewusst nicht wiedergeben werde, gibt es noch weitere halbgare Hinweise. Ich gebe einige von diesen hier unverändert wieder:

Nicht ohne Grund rät die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) dazu, solche Websites bei www.jugendschutz.net, bei www.internet-beschwerdestelle.de oder beim jeweiligen Webhoster zu melden. Solche Meldungen dürften allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein!

Die Websites sind nämlich nur die Spitze des Eisbergs. Auf Unterseiten oder in Kommentaren wird dafür geworben, sich mit einem Twin (engl. für Zwilling), einer Art Mitstreiter, oder in einer WhatsApp-Gruppe zum Abnehmen zusammenzutun. Was dort passiert, lässt sich nur erahnen. Kommentaren zu Folge werden dort Tipps zur Reduzierung des Gewichts ausgetauscht, Durchhalteparolen geteilt, aber auch Druck bei Nichterreichen von Gewichtszielen aufgebaut. Ein gefährliches Spiel hinter verschlossenen Türen, welches den Staat, aber auch Angehörige, zum Verzweifeln bringt.

Dem Staat bleibt nur die Beobachtung des Phänomens

„Kann der Staat nicht eingreifen?“, drängt sich in diesem Moment sicherlich als Frage auf. Immerhin geht es bei diesem Thema um die Zukunft! Es sind in der Regel pubertierende Jugendliche, meistens Mädchen, aber inzwischen auch immer mehr Jungen, die an Essstörungen erkranken. Die Antwort, um es gleich vorwegzunehmen, lautet: nein.

Die Erkrankten sind besonders gut darin, ihre Krankheit zu verstecken. Selbst Freunde und Eltern kommen meistens erst dahinter, wenn es (fast) schon zu spät ist. Somit ist das Problem nur sehr schwer zu greifen. Und wenn Ärtze und Psychologen konsultiert werden, unterliegen die Behandlungen – vernünftigerweise (!) – einer sogenannten Schweigepflicht.

(1) Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar. Körperverletzung (§ 223 StGB)

Aus rechtlicher Sicht ließe sich vielleicht argumentieren, dass Websitebetreiber, welche Essstörungen glorifizieren, wegen Körperverletzung belangt werden sollten. Dies birgt aber eine große Hürde: Es muss ein Strafantrag gestellt werden bzw. die Staatsanwaltschaft müsste mindestens ein besonderes öffentliche Interesse bejahen. Beides ist eher unrealistisch, da die Opfer einer Gesundheitsschädigung so gut wie nicht auszumachen sind. Unter einer Gesundheitsschädigung wird unter Juristen das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen, d.h. eines nachteilig von den normalen körperlichen Funktionen abweichenden Zustandes körperlicher oder seelischer Art verstanden.

Essstörungen und ihre typischen Kennzeichen

Auch wenn die Wissenschaft bereits seit geraumer Zeit Essstörungen untersucht, geben die Krankheitsbilder immer noch viele Rätsel auf. Um es gleich vorweg zu nehmen: Für Magersucht, Bulimie oder die Binge-Eating-Störung, der dritten Kategorie von Essstörungen, gibt es keine allgemeingültige Erklärung dafür, warum die eine oder andere Krankheit ausbricht. Es sind immer mehrere ungünstige Faktoren, die hier zusammenkommen.

Was sich allerdings bereits aufzeigen lässt, sind Beschreibungen der Krankheitsbilder sowie mögliche Kennzeichen. Erstere sind Informationsseiten des Bundesministeriums für Gesundheit entnommen, Letztere Informationsseiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Achtung: Alle Informationen können nur Anhaltspunkte liefern. Es gibt auch Zwischenformen dieser Krankheiten. Eine Diagnose kann und darf nur ein Arzt stellen.

Magersucht

Krankheitsbild:

Anorexie ist die medizinische Bezeichnung der Magersucht. Der Fachbegriff leitet sich von dem griechischen „anorektein“ ab. Übersetzt heißt das soviel wie „ohne Appetit sein“. Allerdings ist Appetitlosigkeit kein klassisches Symptom der Magersucht. Die Betroffenen versuchen vielmehr, den Appetit zu unterdrücken.

Kennzeichen:

Bulimie

Krankheitsbild:

Der Begriff leitet sich von den griechischen Wörtern für Ochse (bous) und Hunger (limos) ab: Ochsenhunger. Er bezieht sich damit auf das zentrale Merkmal der Bulimie: die Essattacken. Eingebürgert hat sich, Bulimie mit Ess-Brech-Sucht zu „übersetzen“. Das ist nicht ganz exakt: Erbrechen gehört nicht zwingend dazu. Manche Betroffene fasten, treiben übermäßig Sport oder missbrauchen Abführmittel, um ihr Gewicht zu regulieren.

Typisches Kennzeichen:

Binge-Eating-Störung

Krankheitsbild:

„Binge“ bedeutet „schlingen“. Auch beim Binge-Eating leiden die Erkrankten an regelmäßigen Heißhungerattacken. Anders als bei der Bulimie ergreifen die Betroffenen aber nach Essanfällen keine Gegenmaßnahmen. Sie erbrechen oder hungern nicht und treiben auch keinen extremen Sport, um ihr Gewicht zu vermindern.

Die Binge-Eating-Störung ist meist mit Übergewicht oder Fettleibigkeit (Adipositas) verbunden. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen mit Übergewicht oder Fettleibigkeit automatisch an Binge Eating leiden. Und auch Menschen mit Normalgewicht können an der Binge-Eating-Störung erkranken. Von den psychisch bedingten Essstörungen ist die Binge-Eating-Störung bisher am wenigsten erforscht.

Typische Kennzeichen:

Magersucht und Bulimie – zwei heimtückische Krankheiten

Magersucht und Bulimie können bei schweren Krankheitsverläufen tödlich enden! Bei einer Magersucht kann ein zu niedriges Gewicht

Bei der Bulimie hingegen können

Das Heimtückische an beiden Krankheiten: das körperliche Leiden macht nur ein Teil aus, der viel größere Teil ist das seelische Leiden. Mitunter gesellen sich deshalb auch depressive Verstimmungen, Angst- oder Zwangsstörung zum Krankheitsverlauf. Ein selbstverletzendes Verhalten kann ebenfalls auftreten.

Manchmal kann nur professionell geholfen werden

Seelische Erkrankungen können Angehörige oder Freunde an Grenzen und darüber hinaus führen. Aus den Erlebnissen einer Freundschaft heraus gehe ich inzwischen sogar soweit und sage, dass ein Helfen als Laie fast unmöglich ist. Problematisch sind einfach die Rollenkonflikte, welche sich zwangsläufig zwischen dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen ergeben. Im Zweifelsfall ist es nur noch möglich, darauf hinzuweisen, dass ein Arzt oder ein Psychologe konsultiert werden sollte. Diese Ratschläge werden allerdings erfahrungsgemäß so lange auf taube Ohren stoßen, wie der Erkrankte nicht zur Einsicht gelangt, dass etwas nicht stimmt.

Und auch mit der Einsicht des Betroffenen wird es nicht leichter, sondern eher noch komplizierter für Angehörige und Freunde. Professionelle Hilfe wie sie zum Beispiel in Spezialkliniken für Essgestörte angeboten wird, setzt auf strikte Regelwerke. Es klingt komisch, aber Essgestörte müssen erst einmal wieder Essen lernen. Dabei stehen sie unter ständiger Beobachtung und einem Rechtfertigungszwang, wenn sie Gewichtsvorgaben nicht einhalten.

Eine begleitende Therapie stellt mitunter zusätzlich alles auf den Kopf. Auch hier möchte ich einen persönliche Erfahrung einfließen lassen: Es kann passieren, dass einem der oder die Betroffene auf einmal fremd vorkommt. Das ist besonders gruselig, wenn vor der Therapie ein recht enges Verhältnis bestand. Eine Essstörung ist wie oben geschrieben eben vielmehr eine seelische als eine körperliche Erkrankung!

Dass das Leben Gewicht hat, ist eine tägliche Entscheidung

Wenn Betroffene nicht zu spät den Ernst der Lage erkennen, gibt es eine Chance auf Heilung! Allerdings ist der Weg dorthin ein langer und steiniger. Letzten Endes trifft ein an einer Essstörung Erkrankter jeden Tag auf’s Neue die Entscheidung, dass das Leben Gewicht hat! Dabei kann es auch den einen oder anderen Rückfall geben, aber Dank wirklich guter professioneller Hilfsangebote muss niemand ein zweites Mal in ein ganz tiefes schwarzes Loch fallen.

Als gesunde Menschen sollten wir uns einmal hinterfragen: Warum eifern wir ständig einem vermeintlichen Schönheitsideal nach? Als kritische Gesellschaft kann die Antwort nur sein: Schluss mit Magermodells und einzig und allein den Körper bewertenden Castingshows! Sie sind zwar nicht der Auslöser von Essstörungen, aber mit Sicherheit ein diese Krankheiten ungüstig beeinflussender Faktor und damit eine Gefahr für unsere Gesellschaft.

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11. Juli 2018