Alwy Allwissend hat die Uhrzeit mit ihrem Smartphone immer griffbereit

Habe ich die Zeit im Griff oder hat mich die Zeit im Griff? Ein beklemmendes Gefühl macht sich von Zeit zu Zeit in mir breit und treibt mich um: Das Gefühl, nie genügend Zeit zu haben!

Ich weiß nicht mehr, wann die Zeit anfing gegen mich zu laufen. Seitdem sie es aber tut, lebe ich in einem Dauerstresszustand. Dieser Stress fängt Morgens mit dem Klingeln des Handyweckers an und endet vermeintlich abends, wenn ich erschöpft in meinem Bett versinke. Dazwischen bin ich von einem Zeitfenster zum nächsten gehetzt – hier eine Vorlesung, da eine Übung, dazwischen habe ich mal ein Mittagessen in mich hineingeschlungen. Und sofern der Nachmittag mal frei ist, war ich bloß noch schnell eine Runde im Stadtpark Laufen, weil es im Winter immer so früh stockfinster wird.

„Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“ Schriftstellerin Marie Freifrau Ebner von Eschenbach

Doch auch wenn ich schlafe, bin ich nicht zwangsläufig entspannt: die innere Uhr tickt weiter. Ich schlafe zum Beispiel unruhig, wenn ich weiß, dass es Morgens sehr früh rausgeht. Ganz anders ist es am Wochenende. Da kann ich immerhin Ausschlafen und lasse es auch sonst deutlich ruhiger angehen.

Bin ich also nicht für ein Leben im Takt geeignet?

Ein Leben im Takt versus ein Leben im Rhythmus

Es hat gar nicht so viel mit mir zu tun, sondern viel mehr mit Mutter Natur. Der emeritierte Professor und Zeitforscher Karlheinz Geißler hat es in einem Interview mit der TAZ einmal schön auf den Punkt gebracht: „Die Natur kennt keinen Takt. Ihr Zeitmuster ist der Rhythmus. Auch das menschliche Herz schlägt nicht im Takt, sondern rhythmisch. Rhythmus bedeutet: Wiederholung mit Abweichungen.“

In dem lesenswerten Interview erklärt er gut anschaulich, was passiert, wenn ein rhythmisches System vertaktet wird. Er führt in seinem Beispiel einen See an, der nach der Uhr – in festgelegten Intervallen – mit Abwasser zugekippt wird. Da sich der See allerdings rhythmisch regeneriert – also in Wiederholungen, die aber auch mal voneinander abweichen – kippt das ganze System ab einem bestimmten Zeitpunkt!

Diese und weitere Erkenntnisse treiben Herrn Geißler bis heute um. Er leitet ein Institut für Zeitberatung namens „timesandmore“ in München, indem auch sein Sohn, Jonas Geißler, arbeitet. Beide können inzwischen auf eine Vielzahl an Beiträgen zu diesem Thema blicken.

„Wer sagt, er habe keine Zeit, lügt oder ist tot!“ Zeitforscher Karlheinz Geißler

Die Vertaktung der Lebens- und Arbeitswelt ist nicht schön, aber sie erscheint mir doch in vielerlei Hinsicht als ein notwendiges Übel. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, wie zum Beispiel ein Nahverkehr mit Bus und Bahn ohne eine Taktung organisiert werden soll. Aber vielleicht ist dies auch wieder meine germanozentrische Sichtweise auf die Welt! Es soll ja Länder geben, in denen Fahrpläne mehr ein Anhaltspunkt als eine genaue Auskunft darstellen.

Die Qual der Wahl kostet Zeit – manchmal zu viel Zeit

Obwohl die Lebenszeit gestiegen ist, wir werden älter als unsere Verfahren, haben dennoch viele wie ich das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben. Eine Ursache hierfür ist meiner Ansicht nach die Qual der Wahl: Es gibt deutlich mehr Möglichkeiten als früher. Was an sich schön ist, wird gleichzeitig zur Crux: Denn permanent müssen wir uns entscheiden.

Soll ich mir mit meinem Kumpel Karten für ein fulminantes Rammstein-Konzert in Berlin besorgen oder doch lieber einen feucht-fröhlichen Abend mit meinen Mädels auf den Hamburger Kiez verbringen? Das Konzert ist nur dieses Wochenende, meine Mädelsabende finden häufiger statt. Soll ich mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen, weil ich so Zeit spare? Oder nehme ich die günstigere Bahn, brauche dann aber auch länger? Um mal ein paar Beispiele zu nennen, in denen auch die Zeit eine Rolle spielt.

Es ist schrecklich, aber ja, ich priorisiere meine Freizeit! Wohlwissend, dass es mir am Ende damit nicht besser geht. Irgendjemand fällt bei dieser Priorisierung immer herunter und ist enttäuscht, weil ich ich nicht kann bzw. abgesagt habe.

„Wir sollten einfach wieder lernen, Dinge auch einmal zu verpassen“ Zeitforscher Jonas Geißler

Jonas Geißler von „timesandmore“ meint für dieses Dilemma einen Ausweg zu kennen. Er plädiert für das Führen von Let-it-be-Listen. Bei diesen Listen liegt der Fokus darauf, ganz bewusst auf Dinge zu verzichten. Sie sind somit das Gegenteil von To-Do-Listen. Sie sollen den Impuls unterbinden „Ich muss noch dies und noch dies erledigen“. Wer konsequent solche Listen führe, habe mehr Zeit für sich.

Der Trend hin zu rhytmischen Medienangeboten

Beim Schreiben des letzten Satzes durchzuckte mich ein Geistesblitz. Ganz unbewusst habe ich nämlich bereits einen Zeitfresser auf meine imaginäre Let-it-be-Liste gesetzt: das lineare Fernsehen. Ich besitze zwar noch ein Empfangsgerät, finde mich aber schon lange nicht mehr sonntags an diesem kurz vor acht ein, um erst die „Tagesschau“ (warum eigentlich?) und im Anschluss den „Tatort“ zu gucken.

Nein, heute schaue ich den „Tatort“, Dokus und Filme, wann ich will und wo ich will. Die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen und private Video-on-Demand-Angebote wie Amazon Prime Video und Netflix machen es möglich. Vielleicht ist genau dieses geänderte Medienkonsumverhalten auch ein Grund für die Zeitungskrise! Das bedruckte Medium erscheint in einem Takt, z. B. immer montags bis samstags. Viele Leser möchten aber inzwischen lieber ihrem Rhytmus gemäß konsumieren.

Das Gute zum Schluss: Wir alle haben Zeit!

Eines ist mir bei meinen Recherchen ganz bewusst geworden und das beruhigt mich ungemein: Wir alle haben Zeit – ICH HABE ZEIT! Und wenn sie mir scheinbar fehlt, dann muss ich sie mir eben nehmen. Die Frage muss also stets lauten: Gehe ich klug mit meiner Zeit um? Und in vielen Fällen lautet die Antwort wohl: nein.

Und wie lautet die Antwort auf dieses Problem? Richtig, LET IT BE!

Fall Sie noch Zeit haben: Geißler Junior und Senior im ausführlichen Interview im alpha-Forum beim Bayerischen Rundfunk – sehr empfehlenswert!

#FirstWorldProblems #Zeit #Zeitfenster #Zeitforschung

23. Januar 2018