Relikt aus Sowjetzeiten: Ein verlassener Panzer auf der Straße nach Dschalalabad, Afghanistan (© timsimages.uk / Fotolia)

Krieg ist seit Jahrzehnten Alltag in Afghanistan. Ein Status quo, welcher sich auch durch den Einsatz der NATO nicht verändert hat. Doch woran scheitert der Frieden? Ein Beitrag, der keine Antwort liefert, aber dafür umso mehr Fragen aufwirft.

Warum mich Afghanistan seit 9/11 fasziniert

Um eines gleich zu Beginn klarzustellen: Ich bin nie dort gewesen, im über 4000 km entfernten Afghanistan. Dennoch fasziniert mich dieses Land und seine Kultur. In erster Linie, weil die Vereinigten Staaten von Amerika nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 innerhalb kürzester Zeit einen Krieg gegen dieses Land vom Zaun brachen. Dabei hat Afghanistan die USA, wohlgemerkt, nie angegriffen.

„Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.“ Verteidigungsminister a. D. Peter Struck

Ein weiterer Grund für mein Interesse liegt in der Tatsache begründet, dass Deutschland seit 2002 Bundeswehr-Soldaten nach Afghanistan entsendet. Zuerst als Teil der von der NATO etablierten „International Security Assistance Force“ („ISAF“), nun als Teil der Nachfolgemission „Resolute Support“. Unser Land ist somit schon über ein Jahrzehnt (!) am Hindukusch vertreten. Definitiv ein Grund genauer hinzuschauen, denn wir haben im Rahmen des Einsatzes 56 Staatsbürger in Uniform verloren.

In der Vergangenheit habe ich alles, was ich in die Hände bekommen konnte, förmlich inhaliert: YouTube-Beiträge, Spielfilme, zeitgeschichtliche Bücher und unzählige TV-Dokumentationen. Ich glaube, es sind die Bilder, die mich einfach nicht mehr loslassen. Als Kind einer Wohlstandsgesellschaft stellt das Land für mich einen krassen Kontrast dar. Ein Widerspruch zu all dem, was ich kenne.

Ein Stellvertreterkrieg mit einer verheerenden Folge

Afghanistan wurde bereits früh Spielball geopolitischer Interessen. Das erste Mal im 19. Jahrhundert, als Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien kämpften. Das russische Kaiserreich war damals bestrebt darin, zu expandieren und am Indischen Ozean einen eisfreien Hafen zu erlangen. Um dies zu verhindern, besetzte das Vereinigte Königreich das Land. Der Preis für diesen vermeintlichen Sieg sollte allerdings teuer von den Briten bezahlt werden. Die vielen afghanischen Bevölkerungsgruppen vereinten sich trotz ihrer Unterschiede und kämpften erbittert gegen die Invasoren. Dies mit großem Erfolg: Afghanistan wurde am 10. August 1919 zurück in die Unabhängigkeit entlassen. Zynischerweise sollten die Russen allerdings auch noch eine tödliche Lektion erhalten und dies nur knapp 60 Jahre später.

Am 25. Dezember 1979 marschierte nämlich die Sowjetunion in Afghanistan ein. Die UdSSR verfolgte hierdurch gleich mehrere Interessen. Zum einen wollten sie einen Bürgerkrieg, welcher in Folge der Machtübernahme durch die kommunistische Demokratische Volkspartei Afghanistans ausgebrochen war, deeskalieren. Zum anderen und das war der eigentliche Grund wollte der Ostblock in Kabul eine sowjetfreundliche Regierung installieren. Afghanistan, so die damalige Denke, sollte die Südflanke der Sowjetunion bilden.

Die heutige Geschichtsschreibung hat Belege dafür, dass die Amerikaner bereits ein halbes Jahr vor dem Einmarsch der Sowjets die afghanischen Mudschahedin mit Waffen unterstützt haben. Die amerikanische Regierung tat dies, um die Sowjetunion in einer Art Vietnam-Krieg aufzureiben. Der Preis für dieses Unterfangen, welches von Pakistan und Saudi-Arabien unterstützt wurde, war allerdings hoch. Als der letzte UdSSR-Soldat am 15. Februar 1989 Afghanistan verließ, bildete sich im Land selbst ein Machtvakuum. Dieses Vakuum füllten die Taliban aus. So gesehen sind die heutigen Feinde eine Folge des von den Amerikanern gewollten Stellvertreterkriegs gegen die Sowjetunion. Und so kurios es klingt, teilweise sind es die damals selbst gelieferten Waffen, die NATO-Soldaten getötet haben!

Was passiert, wenn die interkulturelle Kompetenz fehlt

Anders als bei uns gibt es in weiten Teilen dieses Landes keine befestigten Straßen und Wege, geschweige denn eine Strom- und Wasserversorgung. Im Vergleich zu uns scheint die Gesellschaft Afghanistans im Mittelalter zu leben. Hieraus eine kulturelle Überlegenheit abzuleiten, ist jedoch ein Trugschluss. Wie anmaßend dieser Gedanke ist, illustriert eine Geschichte von Björn Schreiber, einem Kapitänleutnant der Reserve, der als Bundeswehrsoldat für die zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) in Afghanistan gewesen ist.

„Hier ist alles 100 Mal schlimmer, als es mir in meinen kühnsten Träumen erschien. Wenn Albanien schon schlimm war, was Armut betrifft, und Bosnien, was Zerstörung betrifft, so kann das alles hier mühelos getoppt werden. Der Dreck, der Staub ist unbeschreiblich.“ Oberstleutnant Bertram Hacker, Feldpost 2002

In einem Vortrag, welcher dankenswerterweise für die interessierte Öffentlichkeit aufgenommen wurde und auf YouTube zum Nachschauen bereitsteht, erzählt er, dass die Bundeswehr zu Beginn des Afghanistan-Einsatzes tatsächlich (wie in den Medien häufig berichtet) Brunnen gebohrt hat. Die Streitkräfte taten dieses im Glauben, den Dorfgemeinschaften hierdurch einen Gefallen zu tun. Innerhalb kürzester Zeit versandeten die gebohrten Brunnen jedoch. Schuld hieran waren, wie Nachforschungen ergaben, die Dorfbewohnerinnen. Die Frauen wollten lieber weiterhin zu einer entlegenen Wasserstelle gehen, anstatt unter Aufsicht ihrer Männer mitten auf dem Dorfplatz Wasser zu holen. Afghanische Frauen besprechen bestimmte Themen eben lieber unter sich. Dies ist in Deutschland trotz eines möglicherweise moderneren Geschlechterbilds übrigens auch nicht viel anders.

Vortrag von Björn Schreiber an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg am 6. November 2014

Ein weiterer spannender Aspekt Schreibers ist ein Wunsch und eine Aufforderung zugleich an das Auditorium seines Vortrags: „Kennen sie ihre eigene Kultur und verstehen sie die!“ Dieses ist für ihn die wichtigste Voraussetzung, um zu ergründen, welche eigenen Verhaltensweisen möglicherweise in anderen Kulturen befremdlich wirken. Die Frage „Moin, wie geht’s?“ beispielsweise ist in unserem Kulturkreis nicht von wirklichem Interesse geprägt, sondern nur die Überleitung zu einem Sachthema. Es sei an dieser Stelle die Frage aufgeworfen, ob dieses Nichtinteresse an unseren Mitmenschen uns wirklich überlegen erscheinen lässt.

Patriotismus und Weltoffenheit sind keine Gegensätze, sie bedingen einander. Nur wer sich selbst achtet, achtet auch andere. Bundespräsident a. D. Horst Köhler, Amtsantrittsrede

Ein weiterhin viel unterschätzter Aspekt ist der in Afghanistan gelebte Paschtunwali, ein seit vielen Jahrzehnten gelebter Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen. Dieser gehört zu den Stammesgesetzen und enthält neben sehr positiven Aspekten wie der Gastfreundschaft auch eine Komponente zur Vergeltung. Er beschreibt auch, warum den Stammesältesten eine besondere Bedeutung zukommt. Zu ihnen  sie sind nicht selten Analphabeten  wird in der afghanischen Gesellschaft aufgeschaut. Sie sind es, die mehrere Jahre Krieg und auch Hungersnöte überstanden haben. Dies kann als antiquiert empfunden werden, aber wer die „Hearts and Minds“  erobern möchte, wie es im Militärjargon so schön heißt, der sollte den Weg über die Stammesältesten wählen. Nur wer dauerhaft das Vertrauen dieser Menschen gewinnt, hat eine Basis für Entwicklungsprojekte.

Das Militär in der asymmetrischen Todesfalle

Die Armeen der heutigen Zeit verfügen in der Regel über riesiges Arsenal an Waffen. Ich denke hierbei an Kampfflugzeuge, Aufklärungs- und -kampfdrohnen, Flugabwehrsysteme und Panzerhaubitzen. All diese Technik wurde in Afghanistan auch gegen den Gegner eingesetzt. Dennoch war der Mitteleinsatz nur in den wenigsten Fällen effizient und eigentlich nie effektiv. Das Auffahren von Großgerät hat sicherlich eine abschreckende Wirkung erzielt, aber gleichzeitig auch einen Beitrag zur nicht endenden Gewaltspirale geliefert.

Der Gegner jedenfalls blieb die meiste Zeit unsichtbar und ließ sich selten beeindrucken. Er kennt sein Land und die vorherrschende Kultur eben bis heute besser als die Besatzer. Außerdem stellt er sich in der Regel nicht in Feuergefechten, sondern erzeugt eine permanente und scheinbar allgegenwärtige Bedrohungslage über versteckte Sprengfallen. Diese Sprengsätze, im NATO-Sprech IEDs genannt, bringen die Soldaten psychisch an die Belastungsgrenze! Der Gegner ist also effizient und effektiv.

Und wenn der Gegner doch mal seine Deckung verließ, erwies er sich als zäh. So erzählt der Oberstabsgefreite a. D. Johannes Clair nicht ohne Grund in der TV-Doku „Unser Krieg“ von einer überbordenden Euphorie, die nach einem erfolgreichen Einsatz der Operation „Halmazag“ nach Vertreibung des Gegners bei ihm und seinen Kameraden ausbrach. Es war nämlich eine der wenigen mutigen Konfrontationen mit den Deutschen, bei denen die Bundeswehr für einen kurzen Moment Herr über die Lage wurde.

„Das allererste Mal haben wir uns gefühlt wie Sieger auf dem Schlachtfeld. Ein Gefühl, das ich bis heute nicht vergessen kann.“  Stabsgefreiter a. D. Johannes Clair, ZDF-Doku „Unser Krieg“

Sein Erleben verdeutlicht auf emotionale Weise zwei Grundprobleme moderner Armeen. Zum einen sind die Streitkräfte bis heute auf symmetrische und nicht wie in Afghanistan vorherrschend asymmetrische Bedrohungslagen spezialisiert. Zum anderen ist die moderne Technik trotz anderslautender Werbeversprechen der Rüstungsindustrie nur ein Scheinvorteil in Gegenden mit extremen klimatischen Bedingungen sowie unwegsamen Gelände.

An dieser Stelle ist es mir ein Anliegen, meine bisherige Argumentation an einem ganz konkreten Beispiel noch zu untermauern: Die Jagd auf Osama bin Laden, der als Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 gilt, hat trotz modernster Mittel des Militärs sowie der Geheimdienste fast eine Dekade gedauert. Der Begriff „Supermacht USA“ ist spätestens in diesem Zusammenhang obsolet geworden.

ZDF-Dokumentation „Unser Krieg“ (Teil 1 + 2)

Kein Frieden in Sicht, dafür aber ein weiterer Gegner

Mit dem Ende des Jahres 2014 endete offiziel der Kampfeinsatz in Afghanistan. Fortan sollte die afghanische Regierung wieder selbst für Sicherheit im Land sorgen. Dass dies allerdings ein schier unmögliches Unterfangen ist, wusste auch die NATO. Sie startete sicherheitshalber mit „Resolute Support“ eine Nachfolgemission für „ISAF“.

Auf dem Papier handelt es sich um eine Trainingsmission der afghanischen Sicherheitskräfte. In Wirklichkeit verschwimmen die Grenzen zwischen dem reinen Trainieren zu aktiver Kriegsbeteiligung allerdings, wie der Abwurf einer Bombe mit einem TNT-Äquivalent von elf Tonnen durch die Amerikaner erst kürzlich zeigte. Dieser euphemitisch als „Mutter aller Bomben“ bezeichnete Sprengkörper galt übrigens nicht den Taliban, sondern einem weiteren noch relativ neuen  Gegner in Afghanistan: dem „Islamischen Staat“!

Die Spirale der Gewalt, so scheint es, findet kein Ende. Die Einkehr von Frieden in Afghanistan bleibt somit ein frommer Wunsch. Auch weil Frieden immer eine untergeordenete Rolle bei Interventionen spielt oder wenn überhaupt nur ein Eigeninteresse der fremden Mächte zum Schutz von eingesetzten Menschen und Material darstellt.

#9/11 #Afghanistan #Bundeswehr #NATO #Rüstungsindustrie #Terror

6. Mai 2017

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